Eva Pils: “Das verstößt gegen die Bürgerrechte der Hongkonger”
MERICS China Briefing sprach mit Eva Pils, Juraprofessorin am King’s College in London und Gastforscherin am US-Asia-Law Institute der New York University, über den Ausschluss von Mitgliedern des Hongkonger Legislativrats und dessen Bedeutung für die Zukunft des Hongkonger Justizsystems.
Beijing hat kürzlich vier Mitglieder des Hongkonger Legislativrats durch eine Anordnung ausgeschlossen. Wie solide ist die rechtliche Grundlage für diesen Schritt?
Die rechtliche Grundlage ist aus meiner Sicht äußerst wackelig, aber ich fürchte, dass die Zentralregierung bereits weitere Schritte plant, um einer gerichtlichen Überprüfung zuvorzukommen.
Das Hongkonger Grundgesetz setzt klare Regeln, was die Mitgliedschaft im Legislativrat und auch die Prozesse im Fall eines Ausschlusses betrifft. Die Regeln sind Teil eines Systems, das ein hohes Maß an Autonomie vom Festland gewährt, nur ganz bestimmte Gesetze des Festlands in Hongkong anwendbar macht und die Befugnisse des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongresses bei der Interpretation des Grundgesetzes beschränkt.
Beijing hat diese Mechanismen in der Vergangenheit auf eigene und durchaus umstrittene Weise ausgelegt. Dazu gehört die hochproblematische Einführung des Gesetzes zur Nationalen Sicherheit in Hongkong. Diesmal gibt die Zentralregierung nicht einmal vor, sich an die Vorschriften des Grundgesetzes zu halten.
Stattdessen hat der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses den Ausschluss der vier Abgeordneten verordnet und die Artikel 52, 54 und 67(1) der Verfassung der Volksrepublik China als rechtliche Grundlage zitiert, zusätzlich zum Grundgesetz und dem Nationalen Sicherheitsgesetz. An schwersten wiegt, dass Hongkonger Bürger nun anscheinend auf Basis von Artikel 54 verpflichtet werden, „die Sicherheit, Ehre und Interessen des Vaterlands“ zu gewährleisten und sich nicht an Handlungen zu beteiligen, die der „Sicherheit, Ehre und den Interessen des Vaterlandes schaden“.
Das Vorgehen verstößt gegen die im Hongkonger Grundgesetz verankerten Bürgerrechte, gegen internationale Menschenrechtsgesetze und gegen Chinas Zusicherung in der Gemeinsamen Erklärung mit Großbritannien, die Rechtstaatlichkeit in Hongkong sicherzustellen.
Könnte der Ausschluss der Abgeordneten Hongkonger Gerichte auf den Plan rufen?
Theoretisch ja, wenn die Betroffenen eine gerichtliche Überprüfung der Entscheidung verlangen. Allerdings soll der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses bereits daran arbeiten, die Kompetenzen der Hongkonger Gerichte einzuschränken. Ein Mitglied des Ständigen Ausschusses soll gesagt haben, die vier Abgeordneten könnten zwar um eine Überprüfung ersuchen. Die Gerichte würden ihre Fälle aber möglicherweise nicht bearbeiten.
Wie geht das Hongkonger Justizsystem mit der Herausforderung um, das Nationale Sicherheitsgesetz mit den im Grundgesetz verankerten Rechten und Freiheiten unter einen Hut zu bringen?
Bislang gab es nur wenige Fälle, in denen das Nationale Sicherheitsgesetz direkt angewandt wurde. Die meisten Fälle von zivilen Protesten wurden unter bestehenden Gesetzen behandelt. Die Richter begründeten auf dieser Basis Freisprüche, die Gewährung von Kautionen oder Strafen, die von Beijing-freundlichen Beobachtern gerne als „zu milde“ kritisiert werden.
Die Anwendung des Nationalen Sicherheitsgesetzes reichte in den meisten Fällen nicht über die erste Phase der Festnahmen hinaus, auch bei prominenten Akteuren. Die Hongkonger Regierung hat angedeutet, dass die Parole “Die Befreiung Hongkongs – Revolution unserer Zeit” gegen das Sicherheitsgesetz verstoße. Im Oktober wurde erstmals jemand unter dem Nationalen Sicherheitsgesetz angeklagt, das Gericht verweigerte eine Entlassung gegen Kaution, der Angeklagte bekannte sich nicht schuldig und wartet auf seine Verhandlung.
Das beunruhigende an dem Gesetz ist, dass es die Ernennung von Richtern durch die Hongkonger Regierungschefin in Abstimmung mit dem Komitee für die Wahrung der Nationalen Sicherheit vorsieht. Dieser Prozess sorgt dafür, dass Beijings Interessen berücksichtigt werden. Schwer wiegt auch, dass in bestimmten Fällen die Zuständigkeit nach Festlandchina verlegt werden kann, wie zum Beispiel im Fall der zwölf Hongkonger, die bei der Überfahrt nach Taiwan auf offener See aufgegriffen und in die Volksrepublik gebracht wurden. Dort bleibt ihnen das Recht auf ein faires Verfahren verwehrt. Solche Entwicklungen lassen nichts Gutes erahnen mit Blick auf künftige Verfahren bei Verdacht auf Verstoß gegen das Nationale Sicherheitsgesetz.
Dieses Interview erschien im MERICS China Briefing vom 26. November 2020.